„Lesen stärkt die Seele“, das wusste schon Voltaire. Die meisten Eltern geniessen das gemeinsame Eintauchen in Geschichten mit ihren Kindern. Doch warum ist das Vorlesen eigentlich so wichtig?
Wer kennt es nicht: Das Kind kommt aus dem Kindergarten oder aus der Schule nach Hause, und spätestens beim gemeinsamen Essen möchte man als Eltern so viel wissen. Meist sehen die Unterhaltungen dann aber in etwa so aus:
„Wie war es in der Schule?“
„Gut.“
„Ok, hm, und was habt ihr gemacht?
„Nichts.“
Vielleicht mussten Sie gerade schmunzeln, weil Sie sich in solchen Dialogen mit Ihrem Kind wiedererkennen. Aber spätestens abends, wenn wir es uns zusammen zwischen Rieseneinhorn und Kissenberg mit einer Gutenachtgeschichte gemütlich gemacht haben, sprudelt es nur so aus dem Kind heraus. Das Vorlesen ist der Schlüssel in die kindliche Erlebniswelt, in der sich das Kind öffnen kann.
Unser Bücherregal platzt aus allen Nähten, und obwohl wir alles andere gut und gerne aussortieren—das Aussortieren der Bücher fällt uns schwer. Vor allem, weil unsere Kinder alte Geschichten immer wieder neu entdecken und sie vorgelesen bekommen wollen. Weil sie sie mit schönen Erinnerungen verbinden. So werden sie tatsächlich alle immer wieder gelesen, und es kommen stets neue dazu. Mittlerweile sind wir zu dem Schluss gekommen, dass unser ächzendes Bücherregal ein gutes Zeichen ist. Zu viele Spielsachen, ja das kann es geben, aber zu viele Bücher? Nein, das gibt es nicht.
Vorlesen tut Kindern und Eltern gut
Warum ist das Vorlesen so wichtig? Fangen wir bei uns Eltern an. Wir können das gemeinsame Vorlesen zum Anlass nehmen, im oft hektischen Alltag mit dem Kind ganz bewusst in Kontakt zu treten. Wir können zur Ruhe kommen und uns etwas entspannen. Wenn wir vorlesen, lesen wir vor. Wir sind im Moment und können selbst nochmal Kind sein, in die Geschichten mit eintauchen. Zudem können wir eine Menge über unser Kind erfahren und einen Einblick in seine Lebensrealität erhalten: Was bewegt das Kind in der Schule, im Kindergarten? Das gemeinsame Lesen tut der Bindung gut.
Welche Vorteile hat es speziell für unser Kind, wenn wir ihm regelmassig vorlesen? Laut Studien der Stiftung Lesen wirkt sich das regelmässige Vorlesen insbesondere in den ersten vier Lebensjahren positiv auf die kindliche Intelligenz aus. Ganze 6 IQ Punkte soll das interaktive Vorlesen langfristig ausmachen. Interaktiv bedeutet, gemeinsam über das Gelesene zu sprechen, Fragen zu stellen und zuzulassen sowie dem Interesse des Kindes zu folgen: „Was passiert gerade? Was siehst du? Wie könnte es weitergehen?“
Das frühe Vorlesen kann einen wichtigen Grundstein für die spätere Einschulung legen. Die Stiftung Lesen kam zu dem Ergebnis, dass das Lesenlernen Kindern leichter fällt, wenn ihnen schon früh regelmässig vorgelesen wurde. Zudem wird die Geduld trainiert, längeren Geschichten lauschen zu können, und das Kind kann einen grossen Wortschatz aufbauen, der sich vom Alltagswortschatz unterscheidet.
Geschichten von anderen kennen zu lernen und sich in andere Charaktere hineinzuversetzen, fördert die Empathiefähigkeit des Kindes. Gemeinsam mit seinen Helden lernt es, Probleme zu meistern und Abenteuer zu bestehen. Und wer schon einmal bestimmte Handlungsmodelle in Geschichten durchspielt hat, weiss zumindest theoretisch, was zu tun ist, wenn er einmal in einer ähnlichen Situation ist. Dem Kind mag es leichter fallen, eigene Entscheidungen zu treffen und sich besser in Situationen und andere Menschen hineinzuversetzen. Es hat eine andere Perspektive auf das Leben kennengelernt.
Tipps zum Vorlesen
- Suchen Sie sich einen gemütlichen Ort zum Vorlesen. Das kann beispielsweise die Kuschel- oder Leseecke sein, aber warum nicht auch mal mit der Taschenlampe unter der Bettdecke lesen? Machen Sie ein kleines Ritual daraus, täglich vorzulesen, selbst wenn es nur ein paar Minuten sind.
- Bleiben Sie beim Vorlesen auf Augenhöhe mit dem Kind. Ihr Kind sollte selber wählen können und die richtige Geschichte für sich finden. So erfahren Sie am besten, was das Kind interessiert und womit es sich beschäftigt.
- Es gibt tatsächlich auch Kinder, die nicht gerne Geschichten vorgelesen bekommen. In dem Fall könnten Sie es beispielsweise mit Sachbüchern probieren. Was zählt, ist das angenehme Erlebnis mit dem Buch.
- Manche Eltern glauben, keine guten Vorleser zu sein. Dabei kann man eigentlich nicht viel falsch machen: Sprechen Sie langsam und verstellen Sie ihre Stimme. Haben Sie keine Angst, sich lächerlich zu machen! Kinder finden es toll, wenn wir in andere Rollen schlüpfen.
- Was tun, wenn das Kind nicht stillsitzen kann? Geschichten lösen alle möglichen Emotionen in Kindern aus, und viele bauen dies über Motorik ab. Gerade Kinder im Grundschulalter haben den grössten Bewegungsdrang und vielen fällt es einfach schwer, stillzusitzen. Das Tolle: Sie sind auch hüpfend, krabbelnd oder zappelnd ausgezeichnete Zuhörer. Wenn einen das als Erwachsenen beim Vorlesen stört, nicht persönlich nehmen. Helfen kann zum Beispiel ein Fidget Spinner oder etwas Knete, um das Kind beim Zuhören motorisch zu beschäftigen.
Buchtipp:
„Der Bücherschnapp. Jeder braucht eine Gutenachtgeschichte“
Die perfekte Bilderbuchgeschichte fürs abendliche Vorleseritual; ab ca. 3-4 Jahren
https://www.stiftunglesen.de/buch/1593
Über die Autorin:
Michaela Davison ist Lektorin und Mutter dreier Kinder. Sie wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich. Zwar liest sie gern die Texte anderer, schreibt selbst aber auch leidenschaftlich gerne. Vor allem übers Elternsein (leselupe.ch).
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